Film­ver­an­stal­tun­g „Die Geige aus Cer­va­ro­lo“

Film­ver­an­stal­tun­g „Die Geige aus Cer­va­ro­lo“
Wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs, kurz bevor er selbst an die Front ge­schickt wird, legt Vir­gi­lio Ro­va­li, ein trotz sei­nes jun­gen Al­ters im Ap­pen­nin-​Ge­bir­ge bei Reg­gio Emi­lia be­reits be­kann­ter Gei­ger, sei­ner Mut­ter seine wert­vol­le Geige ans Herz. Er konn­te nicht ahnen, was we­ni­ge Jahre spä­ter das Schick­sal sei­ner Fa­mi­lie sein würde. Vir­gi­lio ist immer noch nicht nach Hause zu­rück­ge­kehrt, als am 20. März 1944 seine und viele an­de­re Fa­mi­li­en aus dem klei­nen Dorf Cer­va­ro­lo Opfer eines Mas­sa­kers wer­den, be­gan­gen von deut­scher Wehr­macht mit Un­ter­stüt­zung ita­lie­ni­scher Fa­schis­ten.
Der Film „Die Geige aus Cer­va­ro­lo“ (Nico Gui­det­ti/Matt­hi­as Durch­feld, Ita­li­en 2012) do­ku­men­tiert die Kriegs­ver­bre­cher-​Pro­zes­se von Ve­ro­na aus Per­spek­ti­ve der Über­le­ben­den und An­ge­hö­ri­gen der Opfer. Ihnen, die seit über 68 Jah­ren für Ge­rech­tig­keit kämp­fen, gibt der Film eine Stim­me. Wir wol­len die­ser Stim­me auch dort ein Gehör geben, wo die ver­ur­teil­ten NS-​Mör­der bis heute einen ru­hi­gen Le­bens­abend ge­nie­ßen kön­nen, ohne sich für ihre Taten ver­ant­wor­ten zu müs­sen. Die Fil­me­ma­cher wer­den bei den Vor­füh­run­gen in allen Städ­ten zur wei­te­ren Er­läu­te­rung der Hin­ter­grün­de und zur Dis­kus­si­on an­we­send sein.
28.​10. HAM­BURG
Me­tro­po­lis, Thea­ter­str. 10, 17 Uhr
29.​10. OS­NA­BRÜCK
Film­thea­ter Ha­se­tor, Ha­se­str. 71, 20 Uhr
31.​10. KIEL
Kom­mu­na­les Kino, Haß­str. 22, 20.​30 Uhr (in Ko­ope­ra­ti­on mit der Rosa Lu­xem­burg Stif­tung S-H)
19.​11. MÜN­CHEN
Ei­ne­Welt­Haus, Schwanthalerstr.​80, 19.​30 Uhr
20.​11. NÜRN­BERG
Film­haus, Kö­nig­stras­se 93, 19 Uhr
21.​11. BER­LIN
Mo­vie­men­to, Kott­bus­ser Damm 22, 19 Uhr (in Ko­ope­ra­ti­on mit der Rosa Lu­xem­burg Stif­tung)
 
Der Film wird gezeigt im Rahmen einer Kampagne gegen deutsche Nazi-Kriegsverbrecher:

Aufruf

Vo­gli­a­mo gius­ti­zia – per non di­men­ti­ca­re – mai piu fa­scis­mo!
Kein Ver­ge­ben, kein Ver­ges­sen, keine Ruhe für deut­sche Na­zi-​Kriegs­ver­bre­cher!
So­for­ti­ge und um­fas­sen­de Ent­schä­di­gung aller NS-​Op­fer!


Ur­tei­le gegen sie­ben deut­sche Kriegs­ver­bre­cher in Ve­ro­na
 
Im Juli 2011 wur­den am Ende eines über ein­ein­halb­jäh­ri­gen Ver­fah­rens vor dem Mi­li­tär­ge­richt in der nord­ita­lie­ni­schen Stadt Ve­ro­na sie­ben ehe­ma­li­ge deut­sche Wehr­machts­sol­da­ten wegen ihrer nach­ge­wie­se­nen Be­tei­li­gung an meh­re­ren Mas­sa­k­ern an der ita­lie­ni­schen Zi­vil­be­völ­ke­rung wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs zu le­bens­lan­gen Haft­stra­fen und Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen ver­ur­teilt. Al­le­samt waren sie An­ge­hö­ri­ge der Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“, einer „Eli­te­ein­heit“ der Wehr­macht, die sich durch ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gung und Frei­wil­lig­keit aus­zeich­ne­te. 67 Jahre nach den Gräu­el­ta­ten in der Tos­ka­na und der Emi­lia Ro­ma­gna, bei denen min­des­tens 390 Men­schen jed­we­den Al­ters er­mor­det wur­den, war für die Über­le­ben­den und die An­ge­hö­ri­gen der Opfer nach jahr­zehn­te­lan­gem Kampf um of­fi­zi­el­le An­er­ken­nung zu­min­dest auf dem Pa­pier ein klei­nes Stück Ge­rech­tig­keit her­ge­stellt: Erst­mals wur­den zu­min­dest ei­ni­ge der als Pla­ner und Kom­man­dan­ten haupt­ver­ant­wort­li­chen Täter nach lan­gen Jah­ren des Schwei­gens auch durch staat­li­che Be­hör­den als sol­che beim Namen ge­nannt: Hans Georg Karl Wink­ler, Fritz Ol­berg (†), Wil­helm Karl Stark, Fer­di­nand Os­ter­haus, Hel­mut Oden­wald, Al­fred Lüh­mann und Erich Ko­ep­pe haben sich als Sol­da­ten Na­zi­deutsch­lands des ge­mein­schaft­lich be­gan­ge­nen, mehr­fa­chen, schwe­ren Mor­des schul­dig ge­macht. Drei wei­te­re An­ge­klag­te waren be­reits vor dem Ur­teils­spruch ver­stor­ben, zwei wur­den frei­ge­spro­chen. Sechs der ver­ur­teil­ten Kriegs­ver­bre­cher ver­brin­gen noch heute un­be­hel­ligt ihren Le­bens­abend in Deutsch­land.
Kei­ner der An­ge­klag­ten war in Ve­ro­na vor Ge­richt er­schie­nen, sie wur­den le­dig­lich durch Pflicht­ver­tei­di­ger ver­tre­ten.1 Für eins­ti­ge Na­zi-​Tä­ter, die laut Pro­zess­ak­ten bis zum heu­ti­gen Tage auch sonst kei­ner­lei Reue für ihr Han­deln emp­fin­den, aus gutem Grund: Hät­ten sie sich beim Ur­teils­spruch auf ita­lie­ni­schem Staats­ge­biet auf­ge­hal­ten, wären sie Ge­fahr ge­lau­fen, um­ge­hend ihre Stra­fe an­tre­ten zu müs­sen.
Die BRD hin­ge­gen hält ihre schüt­zen­de Hand über NS-​Kriegs­ver­bre­cher: Weder müs­sen sie eine Aus­lie­fe­rung, noch eine Ver­hand­lung der Kriegs­ver­bre­chen vor deut­schen Ge­rich­ten oder gar die Voll­stre­ckung des ita­lie­ni­schen Ur­teils in Deutsch­land fürch­ten. Die Ur­tei­le von Ve­ro­na mögen sym­bo­li­sche Aus­strah­lungs­kraft haben. Ent­schä­di­gun­gen für die Über­le­ben­den und An­ge­hö­ri­gen, die ihr Leben lang unter den Trau­ma­ti­sie­run­gen und ma­te­ri­el­len Fol­gen der Mas­sa­ker lei­den muss­ten, wer­den aber ge­nau­so un­er­füll­te For­de­run­gen blei­ben, wie die späte Kon­fron­ta­ti­on und In-​Ver­ant­wor­tung­nah­me der Na­zi-​Tä­ter. Fünf von ihnen sind der­weil von ihren si­che­ren Al­ters­sit­zen in Deutsch­land aus in Be­ru­fung gegen die Ur­tei­le ge­gan­gen. Die Neu­ver­hand­lun­gen in Zwei­ter In­stanz wer­den im Ok­to­ber die­ses Jah­res in Rom statt­fin­den.
Die Mas­sa­ker
Mit der sich spä­tes­tens seit 1943 ab­zeich­nen­den mi­li­tä­ri­schen Nie­der­la­ge Na­zi-​Deutsch­lands und sei­ner Ver­bün­de­ten im Zwei­ten Welt­krieg und der Lan­dung der Streit­kräf­te der An­ti-​Hit­ler-​Ko­ali­ti­on auf Si­zi­li­en im Juli be­fan­den sich die Wehr­machts­ver­bän­de und die Trup­pen des fa­schis­ti­schen Ita­li­ens auf dem per­ma­nen­ten Rück­zug durch Ita­li­en, unter ihnen die zuvor in Nord­afri­ka ein­ge­setz­te eli­tä­re und durch be­son­de­re Bru­ta­li­tät ge­kenn­zeich­ne­te Pan­zer-​Auf­klä­rungs­ab­tei­lung bzw. Fall­schirm-​Pan­zer-​Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“. Auf dem Rück­zug durch Ita­li­en be­gin­gen die deut­schen Trup­pen zahl­rei­che Mas­sa­ker an der Zi­vil­be­völ­ke­rung und an­de­re Kriegs­ver­bre­chen, vie­ler­orts hin­ter­lie­ßen sie nicht viel mehr als „ver­brann­te Erde“2. Vor allem die Zi­vil­be­völ­ke­rung hatte hier­für mit un­zäh­li­gen Toten zu be­zah­len.
Im Früh­jahr 1944, nach der Ab­set­zung Mus­so­li­nis und der Ka­pi­tu­la­ti­on der ita­lie­ni­schen Streit­kräf­te, hiel­ten Wehr­macht und SS den Nor­den Ita­li­ens be­setzt, un­ter­stützt von den sich re­or­ga­ni­sie­ren­den Ein­hei­ten der neu aus­ge­ru­fe­nen fa­schis­ti­schen Teil-​Re­pu­blik von Salò. Dabei gin­gen sie mit aller Härte gegen den be­son­ders in die­ser Re­gi­on zu­neh­men­den Wi­der­stand an­ti­fa­schis­ti­scher Par­ti­san_in­nen vor und ver­folg­ten die Stra­te­gie, ganze Land­stri­che men­schen­leer zu ma­chen. Die den Pro­zes­sen von Ve­ro­na zu Grun­de lie­gen­den Mas­sa­ker von Mon­chio (Mo­de­na), Su­sa­no (Mo­de­na), Cost­ri­gna­no (Mo­de­na), Cer­va­ro­lo (Reg­gio-​Emi­lia), Ci­va­go (Reg­gio-​Emi­lia), Monte Mo­rel­lo (Flo­renz), Monte Fal­te­ro­na (Arez­zo) und Mommio (Mas­sa-​Car­ra­ra) fan­den im Rah­men die­ser mör­de­ri­schen Logik na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Kriegs­füh­rung statt. An ihnen waren die Sol­da­ten der Fall­schirm-​Pan­zer-​Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“ füh­rend nebst tau­sen­den wei­te­rer deut­scher Sol­da­ten und ita­lie­nisch-​fa­schis­ti­scher Hel­fer zwi­schen dem 18. März und dem 5. Mai 1944 be­tei­ligt.
Le­gi­ti­miert wur­den die Gräu­el­ta­ten mit der als „Ban­den­be­kämp­fung“ be­zeich­ne­ten Nie­der­schla­gung des Wi­der­stan­des von Par­ti­san_in­nen, die durch die Be­völ­ke­rung ma­te­ri­el­le und lo­gis­ti­sche Un­ter­stüt­zung er­hal­ten wür­den. Da sich die Par­ti­san_in­nen wie­der­um au­ßer­halb der Dör­fer ver­steck­ten, waren die Haupt­leid­tra­gen­den der Mas­sa­ker Kin­der, Frau­en, kran­ke und äl­te­re Men­schen. Die Täter nah­men teils mit Freu­de an Mas­sen­er­schie­ßun­gen, Ar­til­le­rie­be­schuss, Brand­schat­zun­gen, Men­schen­jag­den, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Plün­de­run­gen und De­por­ta­tio­nen teil. Ganze Dör­fer, wie Mon­chio am 18. März, wur­den dem Erd­bo­den gleich ge­macht. Die Freu­de am Töten zeigt sich ex­em­pla­risch an do­ku­men­tier­ten Ge­walt­ex­zes­sen im Dorf Val­luc­cio­le, bei denen Säug­lin­ge von Wehr­machts­sol­da­ten zum so­ge­nann­ten „Ton­tau­ben­schie­ßen“ in die Luft ge­wor­fen wur­den.3
Erst mit der voll­stän­di­gen Be­frei­ung Ita­li­ens durch die al­li­ier­ten Trup­pen Ende April 1944 en­de­ten hier die Ter­ror­maß­nah­men der deut­schen Ver­bän­de in Ita­li­en. Die Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“ wurde als einer der letz­ten deut­schen Trup­pen­ver­bän­de im Juli aus Ita­li­en ab­ge­zo­gen und setz­te ihr mör­de­ri­sches Werk da­nach bis zur end­gül­ti­gen Ka­pi­tu­la­ti­on Na­zi­deutsch­lands im Mai 1945 an der Ost­front fort.
Al­lein die Opfer unter der ita­lie­ni­schen Zi­vil­be­völ­ke­rung, für die die Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“ ver­ant­wort­lich ge­we­sen ist, wer­den auf 1500 Men­schen ge­schätzt.
Staat­lich ga­ran­tier­te Al­ters­ru­he für deut­sche Mas­sen­mör­der
Die sechs noch le­ben­den NS-​Tä­ter Wink­ler, Ol­berg, Stark, Os­ter­haus, Oden­wald, Lüh­mann und Ko­ep­pe müs­sen sich trotz ihrer Ver­ur­tei­lung keine Sor­gen ma­chen, ihre Haft­stra­fen an­tre­ten und ma­te­ri­el­le Ent­schä­di­gun­gen für ihre Ver­bre­chen zah­len zu müs­sen – und das, ob­wohl die per­sön­li­che Be­tei­li­gung an den Mas­sa­k­ern in Nord­ita­li­en, ihre Pla­nung und Durch­füh­rung sowie nicht zu­letzt ihre Zu­ge­hö­rig­keit zur Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“ bes­tens do­ku­men­tiert ist. Die ita­lie­ni­sche Staats­an­walt­schaft erhob, nach Jahr­zehn­ten der Un­tä­tig­keit, An­kla­ge, und das Mi­li­tär­ge­richt in Ve­ro­na ver­ur­teil­te die ehe­ma­li­gen deut­schen Wehr­macht­sol­da­ten. Doch wenn­gleich nach Eu­ro­pa­recht die Ver­ur­teil­ten ei­gent­lich nach Ita­li­en aus­ge­lie­fert wer­den müss­ten, wei­gert sich die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, dies ohne deren Zu­stim­mung zu tun. Diese Re­ge­lung wurde in der jun­gen Nach­kriegs-​BRD von eins­ti­gen NS­DAP-​Par­tei­gän­gern und NS-​Mör­dern er­folg­reich in­stal­liert, die ihre Kar­rie­ren häu­fig in Bü­ro­kra­tie, Jus­tiz und Po­li­tik nach 1945 un­ge­bro­chen fort­set­zen konn­ten. Nicht ohne Grund war das das erste ei­gen­stän­dig ver­ab­schie­de­te Ge­setz der „Bon­ner Re­pu­blik“ – das so­ge­nann­te 147er – ein Am­nes­tie-​Ge­setz.
Einer denk­ba­ren Auf­nah­me ei­ge­ner Pro­zes­se gegen die ver­ur­teil­ten Kriegs­ver­bre­cher auf deut­schem Staats­ge­biet ver­wei­gert die hie­si­ge Jus­tiz ihre Zu­stim­mung. Der Vor­wand: Ein an­geb­li­cher Man­gel an Be­wei­sen. Und ein An­trag der ita­lie­ni­schen Staats­an­walt­schaft auf eine theo­re­tisch mög­li­che Voll­stre­ckung der Ur­tei­le in Deutsch­land wird gar nicht erst be­ant­wor­tet − er gilt als un­be­kannt ver­schol­len.4
Ein sol­cher Un­wil­le der BRD, ihre wohl­be­her­berg­ten NS-​Tä­ter aus­zu­lie­fern, hat eine bis auf ihre Grün­dung zu­rück­ge­hen­de Tra­di­ti­on und re­sul­tiert neben der un­mit­tel­ba­ren Ab­si­che­rung gegen NS-​Re­pa­ra­ti­ons­leis­tun­gen auch aus dem macht­po­li­ti­schen In­ter­es­se des deut­schen Staa­tes, seine au­ßen­po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­räu­me zu ver­grö­ßern. Er mag of­fen­kun­dig im Wi­der­spruch zu der of­fi­zi­el­len Pro­pa­gan­da von der „Ge­läu­ter­ten Na­ti­on“ ste­hen, die für sich be­an­sprucht, ihre na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­gan­gen­heit auf­ge­ar­bei­tet zu haben. Die Nach­kriegs-​BRD und das heu­ti­ge Deutsch­land haben je­doch im Kern die glei­che Mo­ti­va­ti­on.
Wäh­rend es in den Nach­kriegs­jah­ren in der jun­gen Re­pu­blik Ita­li­en – trotz des um­strit­te­nen Pakts zwi­schen der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei und den Christ­de­mo­kra­ten – zu­nächst An­stren­gun­gen gab, deut­sche Kriegs­ver­bre­chen auf­zu­klä­ren und die Täter zur Re­chen­schaft zu zie­hen, kamen diese Be­mü­hun­gen schnell zu ihrem Ende, als im Zuge ihres NA­TO-​Bei­tritts 1955 die Wie­der­be­waff­nung der BRD als west­li­cher Front­staat im Kal­ten Krieg mit dem re­al­so­zia­lis­ti­schen Ost­block be­schlos­sen wurde. Die Bun­des­re­pu­blik war nun nicht mehr in ers­ter Linie der ge­äch­te­te Na­zi-​Nach­fol­ge­staat, son­dern wich­ti­ger Bünd­nis­part­ner der West­mäch­te in der neuen welt­po­li­ti­schen Block­kon­fron­ta­ti­on. Aus­lie­fe­rungs­for­de­run­gen von deut­schen Kriegs­ver­bre­chern hät­ten in­ner­halb der noch jun­gen Bünd­nis­kon­stel­la­ti­on für Un­stim­mig­kei­ten ge­sorgt. Nicht zu­letzt der Auf­bau der Bun­des­wehr wäre ohne per­so­nel­le Kon­ti­nui­tä­ten aus dem NS-​Mi­li­tärap­pa­rat nicht denk­bar ge­we­sen. Die Ent­tar­nung und An­kla­ge von Kriegs­ver­bre­chern hätte das Pro­jekt der Re­mi­li­ta­ri­sie­rung ernst­haft ge­fähr­den kön­nen und dem öf­fent­li­chen Wi­der­spruch Auf­trieb ge­ge­ben, der sich in den 1950er Jah­ren als Be­we­gung gegen die Wie­der­be­waff­nung for­mier­te, an der sich weite Teile der west­deut­schen Lin­ken be­tei­lig­ten.
Der da­ma­li­ge ita­lie­ni­sche Au­ßen­mi­nis­ter Gae­ta­no Mar­ti­no sprach sich 1956 des­halb gegen Aus­lie­fe­rungs­for­de­run­gen aus − zur Wah­rung des Bünd­nis­frie­dens. Und so ver­schwan­den in den 1950ern ins­ge­samt 695 Akten mit In­for­ma­tio­nen zu deut­schen Kriegs­ver­bre­chen im „Schrank der Schan­de“ der ita­lie­ni­schen Ge­ne­ral­mi­li­tär­staats­an­walt­schaft, die erst 1994 wie­der­ent­deckt wur­den und das 40jäh­ri­ge Schwei­gen und Ver­schlep­pen der NS-​Kriegs­ver­bre­chen durch die ita­lie­ni­schen Be­hör­den, das im deut­schen In­ter­es­se ge­schah, be­en­de­ten. Die Akten waren die Grund­la­ge der Pro­zes­se von Ve­ro­na.
Doch auch heute, trotz der Ver­ur­tei­lung durch die Jus­tiz eines ver­bün­de­ten Staa­tes, trotz der pro­kla­mier­ten „Läu­te­rung“ und der längst ab­ge­schlos­se­nen und eta­blier­ten, also kei­nes­falls mehr ge­fähr­de­ten Wie­der­be­waff­nung der auf das Par­kett der po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Groß­mäch­te zu­rück­ge­kehr­ten BRD, blei­ben die we­ni­gen noch le­ben­den Täter un­an­ge­tas­tet. Denn auch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land als recht­li­che Nach­fol­ge­rin des NS-​Ter­ror­staats saß be­reits mehr­fach als zi­vil­recht­lich haf­ten­der Ge­samt­schuld­ner wegen Scha­dens­er­satz­for­de­run­gen für Kriegs­ver­bre­chen auf der An­kla­ge­bank. Erst­ma­lig ging die­sen Schritt im Mai 2000 das höchs­te grie­chi­sche Ge­richt, der Areo­pag, das die BRD wegen eines Mas­sa­kers der SS in Dist­o­mo zu be­trächt­li­chen Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen ver­ur­teil­te.
Sol­che Ur­tei­le be­inhal­te­ten die theo­re­ti­sche Mög­lich­keit, im Falle des Aus­blei­bens frei­wil­li­ger Zah­lun­gen, deut­sches Staats­ver­mö­gen auf ita­lie­ni­schem und grie­chi­schen Staats­ge­biet ent­eig­nen zu kön­nen. Wohl­wis­send, dass die Eta­blie­rung einer sol­chen Pra­xis die no­to­ri­sche Wei­ge­rung der BRD, ihrer Ver­ant­wor­tung nach­zu­kom­men, un­ter­gra­ben und eine Welle von wei­te­ren Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen zur Folge haben würde, setz­te die BRD die Re­gie­run­gen Ita­li­ens und Grie­chen­lands unter mas­si­ven di­plo­ma­ti­schen Druck. Dar­über hin­aus reich­te sie vor dem In­ter­na­tio­na­len Ge­richts­hof in Den Haag, unter Be­ru­fung auf ihre da­durch an­ge­tas­te­te „Staa­ten­im­mu­ni­tät“, Klage gegen die Recht­mä­ßig­keit der Ur­tei­le ein – und bekam An­fang die­ses Jah­res Recht.5
Denn ein zi­vil­recht­li­cher An­spruch auf Ent­schä­di­gun­gen ge­gen­über krieg­füh­ren­den Staa­ten für Kriegs­ver­bre­chen hätte fa­ta­le Fol­gen – nicht nur für Deutsch­land: Es würde ein Prä­ze­denz­fall ge­schaf­fen, der prin­zi­pi­ell den zi­vi­len Op­fern aller Krie­ge – ver­gan­ge­ner wie zu­künf­ti­ger – das Recht auf Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen zu­sprä­che.
Deutsch­land führt seit dem Ko­so­vo-​Ein­satz – aus­ge­rech­net be­grün­det mit der Lehre, die man aus Ausch­witz ge­zo­gen haben will – wie­der An­griffs­krie­ge und ist fol­ge­rich­tig in Kriegs­ver­bre­chen ver­wi­ckelt, wie jüngst das Bei­spiel Kun­duz ge­zeigt hat. Die Kos­ten sol­cher Krie­ge, die die öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Vor­macht­stel­lung in der sich zu­spit­zen­den glo­ba­len Stand­ort­kon­kur­renz ab­si­chern sol­len, wür­den durch ent­spre­chen­de Ent­schä­di­gungs­an­sprü­che dro­hen, in die Höhe zu schnel­len. Eine Sorge, die die BRD mit allen an­de­ren nach geo­stra­te­gi­scher Macht stre­ben­den krieg­füh­ren­den Staa­ten teilt.
Die Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen ge­fähr­den die He­ge­mo­nie der BRD auch in einem wei­te­ren Punkt: Of­fe­ne Rech­nun­gen bei Op­fern des NS-​Ter­rors in Grie­chen­land und Ita­li­en pas­sen nicht zu einer Po­li­tik, die in Zei­ten sich über­schla­gen­der ka­pi­ta­lis­ti­scher Kri­sen alles daran setzt, die Be­völ­ke­run­gen der­sel­ben Staa­ten für die Fol­gen des öko­no­mi­schen Kol­laps be­zah­len zu las­sen und sich den deut­schen In­ter­es­sen zu un­ter­wer­fen.
So­li­da­ri­tät mit den Op­fern Na­zi­deutsch­lands heißt den Tä­tern auf die Pelle rü­cken
Dass Na­zi-​Tä­ter seit Jahr­zehn­ten un­ge­stört in un­se­rer Nach­bar­schaft leben, ist in Deutsch­land lei­der keine neue Er­kennt­nis – des­halb ist sie frei­lich nicht we­ni­ger un­er­träg­lich. Viel­mehr ist diese Rea­li­tät eine Auf­for­de­rung an alle, die es als An­ge­hö­ri­ge der nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen im Land der Täter/innen mit der his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung ernst mei­nen, an­ti­fa­schis­tisch kon­se­quent dort, wo es noch mög­lich ist, be­kann­te NS-​Mör­der auch in ihrem di­rek­ten so­zia­len und fa­mi­liä­ren Um­feld nicht als un­be­schol­te­ne Bür­ger in die Ge­schich­te ein­ge­hen zu las­sen, son­dern sie als die wil­li­gen Voll­stre­cker des deut­schen Mas­sen­mor­des in Eu­ro­pa zu be­nen­nen, zu denen sie vor bald 70 Jah­ren wur­den, und damit zu­min­dest punk­tu­ell Ge­rech­tig­keit für die Mil­lio­nen Opfer des Na­zi-​Ter­rors her­zu­stel­len. Zu viele der NS-​Tä­ter und ihrer Hel­fer/innen konn­ten in Ruhe ihr bio­lo­gi­sches Ende an­tre­ten, ohne je­mals Kon­se­quen­zen für ihr Han­deln über­nom­men haben zu müs­sen. Doch dort, wo wir schwarz auf weiß die Namen von deut­schen Kriegs­ver­bre­chern ein­se­hen kön­nen, ist ei­ni­ge letz­te Male am kon­kre­ten Bei­spiel zu be­nen­nen, wer auf­rich­tig im Sinne der Mensch­lich­keit und wer ver­bre­che­risch ge­han­delt hat. Diese Un­ter­schei­dung er­ach­ten wir als die not­wen­di­ge Be­din­gung der Mög­lich­keit eines ega­li­tä­ren, so­li­da­ri­schen und frei­en Zu­sam­men­le­bens aller Men­schen.
Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land hat, wel­ches Lip­pen­be­kennt­nis sie zu un­ter­schied­li­chen Zeit­punk­ten auch ab­ge­ge­ben haben mag, nie­mals glaub­haft Ver­ant­wor­tung für die Na­zi-​Ver­bre­chen über­nom­men und ein In­ter­es­se an Ge­rech­tig­keit fü deren Opfer ge­habt. Sie hat statt­des­sen seit jeher den ei­ge­nen öko­no­mi­schen und po­li­ti­schen Nut­zen zum Maß­stab des am­bi­va­len­ten Ver­hält­nis­ses zu die­ser Ver­gan­gen­heit ge­macht. In einem sol­chen Land, in dem bis heute Men­schen im Namen der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gie er­mor­det wer­den, in dem Na­tio­na­lis­mus, Ras­sis­mus, An­ti­se­mi­tis­mus und Krieg ge­sell­schaft­lich breit ver­an­kert und zudem fest in­te­grier­ter Be­stand­teil herr­schen­der ka­pi­ta­lis­ti­scher Stand­ort­po­li­tik sind, liegt es an denen, die nicht ver­ges­sen und ver­ge­ben wol­len, die Ge­schichts­schrei­bung der Täter/innen zu re­vi­die­ren.
Wir wer­den die Na­zi-​Kriegs­ver­bre­cher, An­ge­hö­ri­ge der Di­vi­si­on „Her­mann Gö­ring“, Hans Georg Karl Wink­ler aus Nürn­berg (Leut­nant und Kom­man­dant der 4. Kom­pa­nie, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker am Monte Fal­te­ro­na und in Mommio), Wil­helm Karl Stark aus Un­ter­föh­ring bei Mün­chen (Feld­we­bel und Kom­man­dant der 3. Kom­pa­nie, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker in Cer­va­ro­lo, Mommio und Monte Fal­te­ro­na), Fer­di­nand Os­ter­haus aus Os­na­brück (Leut­nant und Kom­man­dant der 5. Kom­pa­nie, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker in Mon­chio, Su­sa­no, Cost­ri­gna­no und Mommio), Hel­mut Oden­wald aus Ber­lin (Haupt­mann und Kom­man­dant der 5. Kom­pa­nie, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker in Mon­chio, Su­sa­no, Cost­ri­gna­no, Monte Mo­rel­lo und Monte Fal­te­ro­na), Al­fred Lüh­mann aus Bargstedt bei Stade (Ge­frei­ter der 4. Kom­pa­nie, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker in Mon­chio, Su­sa­no, Cost­ri­gna­no und Monte Fal­te­ro­na) und Erich Ko­ep­pe aus Laboe bei Kiel (Ober­leut­nant, maß­geb­lich mit­ver­ant­wort­lich für Mas­sa­ker in Mon­chio, Su­sa­no und Cost­ri­gna­no)
in ihrer un­ver­dien­ten Al­ters­ru­he stö­ren und sie nicht un­kon­fron­tiert mit ihrer mör­de­ri­schen Ver­gan­gen­heit das Zeit­li­che seg­nen las­sen. We­nigs­tens dort, wo es uns mög­lich ist, wer­den wir den deut­schen Schluss­strich der Läu­te­rung unter die mör­de­ri­sche NS-​Ge­schich­te, mit der nie nach­hal­tig ge­bro­chen wurde, durch­kreu­zen.
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